Meine Oma ist 89. Ich schreibe das, weil 89 ein Alter ist, ab dem man jederzeit damit rechnen muss, dass es vorbei ist. Meine Oma weiß das, sie redet öfter davon, aber ich komme damit überhaupt nicht klar. Vorgestern lag ich die halbe Nacht wach, weil ich einfach darüber nachdenken musste. Irgendwann ist es vorbei, irgendwann geht jeder Mensch, aber fast jeder Mensch, der geht, hinterlässt eine Lücke, die nicht mehr geschlossen werden kann.

Seit ich bin, ist meine Oma!

 

Meine Oma war schon vor mir auf dieser Welt. Ist ja auch klar, denn wenn meine Oma nicht vor mir hier gewesen wäre, könnte meine Mutter nicht leben und somit könnte sie nicht meine Oma sein. Aber das bedeutet natürlich auch, dass meine Oma mich schon mein ganzes Leben begleitet und das ich mir ein Leben ohne sie gar nicht vorstellen kann. Wer kann das schon? Deswegen will ich mir auch gar nicht vorstellen, dass meine Oma irgendwann stirbt. Ich will, dass sie noch lange lebt, dass sie 100 wird, vielleicht auch noch viel älter – aber will meine Oma das überhaupt?

Leider fällt einem meist viel zu spät auf, dass die Zeit eines Menschen begrenzt ist. Wenn der Mensch dann nicht mehr da ist, dann wird einem plötzlich klar, dass die Zeit, die wir mit diesem Menschen verbracht haben, eigentlich viel zu wenig war. Dass wir uns mehr Zeit hätten nehmen müssen. Ein Besuch alle halbe Jahre ist einfach zu wenig, aber das begreifen wir erst, wenn es viel zu spät ist.

Vorher leben wir meist unser Leben, wir wissen, da ist ein Mensch, den wir lieben, und der ist da – ganz selbstverständlich. Dann kann schon mal eine Menge Zeit ins Land gehen, bevor man diesen Menschen wieder besucht und irgendwann könnte es dann sein, dass wir vor einer leeren Wohnung stehen, vor einer Klingel, an der auf einmal ein anderer Name steht und dann sehen wir, der Mensch ist nicht mehr da und er wird auch nicht wieder kommen. Wir stehen vor der Tür und denken uns, dass wir viel zu wenig Zeit mit diesem Menschen verbracht haben, dass wir uns nicht einmal verabschieden konnten und das wir viel zu wenig am Leben dieses Menschen haben teilnehmen dürfen. Und schuld sind wir natürlich selbst, weil wir uns nur mit unserem Leben beschäftigt haben, weil wir diesen Menschen als selbstverständlich angesehen haben und weil wir uns nicht die Zeit genommen haben, die uns dieser Mensch eigentlich hätte wert sein müssen.

Meine Oma ist 89. Sie hat viele Enkel und Urenkel. Genügend eigentlich, damit bei ihr täglich jemand zu Besuch sein könnte. Die Realität sieht leider anders aus! Viele Tage ist sie allein zu Haus, was natürlich Einsamkeit bedeutet, denn meine Oma lebt alleine. Ein Heim kommt für sie nicht infrage, was ich verstehen kann, denn wir alle wissen, was in deutschen Heimen so abgeht. Deswegen denkt sie natürlich auch darüber nach, dass es Zeit ist zu gehen, was nicht stimmt, denn es ist nie Zeit zu gehen, es gibt immer etwas, was man noch machen könnte. Den Urenkeln Geschichten erzählen, wäre so etwas oder ihnen beim Erwachsen werden zusehen. Aber das geht nur, wenn die Urenkel auch mal zu Besuch kommen, was sie viel zu selten machen! Und dann bleibt natürlich nur die Einsamkeit und damit dann auch das Nachdenken darüber, wie lange man diese Einsamkeit noch ertragen muss.

Ich bin natürlich auch ein Enkel meiner Oma. Auch ich bin viel zu selten bei ihr, wobei selten nicht bedeutet, dass ich nur einmal im Jahr zu ihr gehe, aber es ist dennoch selten – auch im Hinblick darauf, dass meine Oma schon 89 ist und ich nicht mehr all zu viel Zeit habe, die ich mit ihr verbringen kann. Dennoch verbringe ich mehr Zeit bei meiner Oma, als viele andere ihrer EnkelInnen. Das mag von diesen nicht böse gemeint sein, weil sie ihr eigenes Leben haben, weil sie arbeiten, weil sie einfach selbst zu wenig Freizeit haben. Aber ich bin mir sicher, wenn unsere Oma nicht mehr da ist, werden sie es bereuen, so wenig Zeit mit ihr verbracht zu haben. Vielleicht werden sie ein schlechtes Gewissen haben, weil sie genau wissen, dass sie sich viel zu wenig Zeit genommen haben, vielleicht aber auch nicht, weil ihre Oma keine ganz so große Rolle in ihrem Leben gespielt hat. Wobei ich das Letztere nicht glauben kann.

Meine Oma hilft, wo sie nur kann!

 

Worüber ich mich regelmäßig ärgere, ist, dass meine Oma so wenig Besuch bekommt. Meist nur dann, wenn jemand Hilfe braucht. Dann erinnert man sich gerne an sie, aber wenn es darum geht, ihr einfach ein wenig Zeit zu schenken, dann wird das schwer mit dem Besuchen. Dann ist plötzlich keine Zeit da! Das macht mich traurig, denn ich bin mir sicher, dass die Zeit vorhanden wäre, wenn man sie sich ernsthaft nehmen wollte.

Ich verstehe natürlich, dass es schwer wird, wenn man nicht in derselben Stadt lebt. Dann ist es tatsächlich nicht möglich, dass man jedes Wochenende zu besuch kommt. Wenn man allerdings gemeinsam in einer Stadt lebt, dann sollte es schon möglich sein, dass man einen Menschen, der zur Familie gehört und den man liebt, mindestens einmal alle 14 Tage besucht. So teuer sind die Fahrpreise dann auch nicht, genau so wenig sind die Fahrzeiten ein Problem. 6-7 Stunden kann sich jeder alle 14 Tage einmal nehmen, selbst wenn man sehr viel Stress im Arbeitsleben hat. Das würde die Einsamkeit meiner Oma vertreiben und neue Lebensfreude bringen.

Meine Oma, das Tor in eine andere Zeit.

 

Meine Oma ist natürlich auch ein Tor in eine andere, längst vergangene, Zeit. Sie kann mir Geschichten aus Zeiten erzählen, die ich nicht miterlebt habe. Sie kann mir natürlich auch Geschichten aus Zeiten erzählen, die ich miterlebt habe, an die ich mich aber nicht mehr wirklich erinnern kann, weil ich noch viel zu Jung war. Wer soll mir diese Geschichten erzählen, wenn meine Oma plötzlich nicht mehr da ist?

Wenn meine Oma irgendwann nicht mehr ist, dann geht nicht nur der Mensch. Nein, dann gehen auch all die Geschichten, die sie in ihrem Leben erlebt hat und die sie gerne erzählt hat. Nur wenig wird davon in der Erinnerung bleiben und es wird sich ein Tor in die Vergangenheit verschließen, welches ich nicht mehr öffnen kann. Sicher kann mir dann noch mein Onkel Geschichten erzählen und meine Mutter natürlich auch, aber es werden nicht die Geschichten sein, die mir meine Oma erzählt.

Meine Oma – Eure Oma

 

Meine Oma lebt noch, sie ist 89 und wird hoffentlich noch viele Geburtstage feiern dürfen. Wie sieht es mit eurer Oma aus? Lebt sie noch? Wenn ja, verbringt ihr genügend Zeit mit ihr? Vielleicht ist es mal wieder Zeit für ein Telefonat mit ihr? Vielleicht auch für einen spontanen Besuch?

Meine Oma ist garantiert nicht nur meine Oma! Es gibt viele Omas da draußen, denen von ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln viel zu wenig Zeit geschenkt wird. Zeit, die nicht vergeudet ist, die beiden Seiten Freude bringt und die eine Bereicherung für beide Seiten ist.

3 Gedanken zu „Meine Oma…

  1. Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad – fiel mir spontan bei der Artikelüberschrift hier ein.
    Aber zurück zum Ernst des Lebens. Egal ob nun Oma, oder auch Mutter, Cousine oder Geschwister oder sonstige Familienmitglieder und Freunde… das Leben endet irgendwann für jederman. Und obwohl das jeder weiß, weiß man nie so richtig wie man damit umgehen soll. Eines ist klar, man soll sein eigenes Leben genießen und auch die Mitmenschen, die einen auf dem Lebensweg begleiten.
    Aber lernen, wie man mit dem Verlust umgehen soll, auch die Geschichten, die du erwähnst, die somit für immer versiegelt bleiben…
    Das Leben ist schon ein komischer Aufenthalt! Machen wir das Beste draus! 🙂

  2. Ich war 17 Jahre alt, als meine Oma starb. Das war der erste Tod, den ich in unserer Familie miterlebte. Natürlich wußte ich es irgendwie, dass das Sterben nicht nur in der WAZ bei fremden Leuten in den Todesannoncen zu erfahren ist, sondern auch in unserer Familie irgendwann eintritt. Nur, wissen und es sich wirklich bewußt machen, da liegen wohl Welten zwischen. Insgeheim muß ich wohl immer noch gedacht haben, dass nur woanders gestorben wird, aber nicht bei uns. Bis halt eines Tages, auch noch unverhofft und unerwartet, die Todesnachricht kam.
    Das hatte bei mir einen schweren psychischen Einbruch verursacht. Ich konnte damit absolut nicht umgehen und entwickelte kurze Zeit später Angstzustände und panische Angst vor dem eigenen Tod, der ja auch irgendwann kommt. Ganz bin ich die Sache nie wieder losgeworden.
    Ich kann nur raten, das Thema nicht zu verdrängen, sondern zu bearbeiten.

  3. Meine Oma ist nicht mehr (eigentlich gibt es ja zwei). Aber doch ist sie eine bleibende und schöne Erinnerung und vor allem weiß ich welche wichtige Rolle sie gespielt hat. Und so könnte man sagen: eine Oma geht nie ganz ….

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