19 April 2015

Jamila

Jamila, ein junges MĂ€dchen vom afrikanischen Kontinent. Sie ist gerade erst 15 und doch schon so erwachsen. Sie ist auf der Suche nach ihrem Platz in dieser Welt, einen Ort, an dem sie keinen Hunger erleiden muss, einen Platz, an dem sie sich sicher fĂŒhlt. Jamila möchte eine Ausbildung machen, möchte Arbeiten, will Geld verdienen. Das MĂ€dchen kennt keinen Neid, freut sich darĂŒber, dass es anderen Menschen gut geht, aber es möchte sich seinen Teil von diesem Wohlstand erarbeiten, möchte niemanden etwas wegnehmen. Wenn Jamila in Afrika die Möglichkeit dazu hĂ€tte, wĂŒrde sie es dort tun – nein, sie wird es dort tun, sobald sie genĂŒgend Geld verdient hat, um dort etwas aufzubauen. Und wenn es mit dem Geld nicht klappt, dann möchte sie wenigstens genĂŒgend Bildung erwerben, um diese dann an andere afrikanische Kinder weiterzugeben, damit die etwas aufbauen können, in ihrem Land, welches auf dem afrikanischen Kontinent liegt.

Jamila möchte hier nicht weg. Sie liebt dieses Land, sie liebt die Natur, die Landschaften. Hier hat sie ihre Wurzeln, hier hat sie ihre Familie, aber hier muss sie eben auch stĂ€ndig mit ihrem Hunger leben. Und dann diese Gewalt. Nein, die meisten Menschen sind nicht Böse, da ist sich Jamila sicher, es sind die UmstĂ€nde, die sie zu dem machen, was sie inzwischen sind. Wenn die Menschen nicht stĂ€ndig hungern mĂŒssten, obwohl sie so viel arbeiten, dann wĂ€ren sie friedlicher, dann wĂŒrden sie sich nicht mit Gewalt das holen mĂŒssen, was sie zum Leben brauchen. Jamila weiß, wo das Geld ist, das hier fehlt. Es ist dort, wo die Rohstoffe hingehen, die hier abgebaut werden und fĂŒr die nur wenig Geld gezahlt wird.

Jamila wĂŒrde gerne Politik machen, aber das ist in ihrem Land kaum möglich. Wenn es möglich wĂ€re, wĂŒrde sie vieles in ihrem Land Ă€ndern, sie wĂŒrde dafĂŒr sorgen, dass es den Menschen gut geht, aber ihr fehlt das Geld, um hier Politik machen zu können. Und den Menschen in ihrem Land fehlt die Bildung, um etwas Ă€ndern zu können. Und genau deswegen möchte sie nach Europa. Sie möchte Geld verdienen und sie möchte Wissen sammeln und mit beiden möchte sie zurĂŒck in ihr Land.

Schauen wir mal, wo Jamila gerade ist, schauen wir mal, wie weit sie schon ist, ob sie Europa schon erreicht hat:

„Jamila, wo bist du gerade?“

„Ich bin hier, siehst du mich?“

„Jamila, ich sehe viel Wasser, sehr viel Wasser, aber dich sehe ich nicht. Wo ist denn dein Boot?“

„Mein Boot ist gesunken. Es waren wohl zu viele Menschen drauf, aber ich bin hier, schau einmal genau hin. Ich schwimme hier, siehst du mich? Ich versuche es weiterhin, versuche nach Europa zu kommen.“

„Jamila, Europa ist noch viel zu weit weg. Da ist doch nirgendwo Land, da ist nur Wasser, ĂŒberall Wasser um dich herum.“

„Ja, sehr viel Wasser. Salziges Wasser. Aber ich muss schwimmen. Was sollte ich auch sonst tun? Hier ist kein Schiff, das mir zur Hilfe kommt, hier ist niemand, also muss ich schwimmen. Schwimmen und hoffen, dass ich das Land erreiche.“

„Aber Jamila, so weit kann doch keiner schwimmen! Es ist viel zu weit weg!“

„Ich muss, oder soll ich Aufgeben? Wenn ich nicht mehr schwimme, gehe ich unter, und wenn ich untergehe, kann ich nichts mehr Ă€ndern. Und es gibt viel zu Ă€ndern. In Europa, in Afrika, ĂŒberall. Ich muss nach Europa kommen und dort komme ich nur hin, wenn ich schwimme.“
„Es muss doch irgendwo ein Schiff sein, Jamila, irgendwo muss es doch Hilfe fĂŒr dich geben. Ich wĂŒrde dir so gerne helfen, aber ich kann nicht. Warum kann ich dir nicht helfen, Jamila?“

„Weil du nicht hier bist, weil du kein Boot hast, und wenn du eines hĂ€ttest, dann wĂ€rst du immer noch nicht hier. Und hier ist auch kein anderes Schiff und deswegen muss ich weiter schwimmen und hoffen.“

„Jamila, wo bist du? Ich kann dich nicht mehr sehen, nur noch Wasser… – Jamila?“

Jamila ist fort! War sie dort ĂŒberhaupt? Schwamm sie eben wirklich dort auf dem Wasser, war sie da? Ja, Jamila war dort, nun ist sie fort, fĂŒr immer. Jamilia, auf hebrĂ€isch bedeutet das „Die den Frieden bringt“ – Jamila ist ertrunken, vor der KĂŒste des FriedensnobelpreistrĂ€gers. Wer bringt jetzt den Frieden? Den Frieden nach Afrika, den Frieden unter die Menschen? Jamila kann es nicht mehr, sie musste sterben, weil Europa Angst davor hat, den Wohlstand zu teilen. Den Wohlstand, der zum Teil auch aus Afrika stammt.

17 April 2015

Vierhundert versunkene TrÀume

Vierhundert Menschen! Vierhundert Menschen, die, wenn wir genauer hinsehen, gerade um ihr ĂŒberleben kĂ€mpfen. Sie treiben auf dem Meer, ihr Boot ist gekentert, keine Hilfe weit und breit. Sie kĂ€mpfen, wollen weiter, wollen hier nicht sterben. Sie haben noch TrĂ€ume, sie haben Familie und sie tragen Verantwortung fĂŒr diese Familie. Vierhundert Menschen! Die Herkunft ist egal, die Religion ist egal, wichtig ist nur, dass es Menschen sind. Wichtig ist, dass sie TrĂ€ume haben, dass sie in ein anderes Leben flĂŒchten wollen, dass sie die Hoffnung fĂŒr Menschen sind, die sie zurĂŒcklassen mussten. Vierhundert Menschen!

Dort, ein MĂ€dchen, vielleicht 18 Jahre alt. Sie sieht noch gut aus, könnte es schaffen, wenn Hilfe unterwegs wĂ€re. Sie schwimmt noch, hat noch keine Probleme damit, sich ĂŒber Wasser zu halten. Ist das noch ein LĂ€cheln, das ĂŒber ihr Gesicht huscht? Ist das noch Hoffnung? Glaubt sie, dass noch alles gut wird?

Als sie vor mehreren Wochen ihr Heimatdorf verließ, hatte sie große PlĂ€ne. Sie wollte raus aus der Armut, wollte in eine andere Welt. Sie wollte gar nicht viel, sie wollte lernen. Mehr wollte sie nicht! Sie wollte Wissen sammeln, wollte Studieren, wollte Geld verdienen, damit sie den Menschen in ihrem Dorf helfen kann. Sie wollte Hoffnung in ihr Dorf bringen, wollte beweisen, dass sie nicht hungern mĂŒssen, dass es ihnen genauso gut gehen kann, wie den Menschen in der Welt, in die sie fliehen wollte.

Sie wollte nicht viel? Doch, sie wollte viel! Sie wollte die Welt verĂ€ndern, wollte Ungerechtigkeiten benennen und sie abschaffen. Obwohl sie in einem kleinen Dorf lebte, konnte sie lesen und schreiben. Und sie las viel. Viel ĂŒber die Welt, in die sie fliehen wollte und ĂŒber die Möglichkeiten, die sie hĂ€tte, um dort die Welt zu verĂ€ndern. Ihr war bewusst, dass sie noch viel lernen musste, um ĂŒberhaupt eine Chance zu haben und ihr war bewusst, dass sie kĂ€mpfen musste, um ihre Ziele zu erreichen.

Wollen wir ihr einen Namen geben, denn sie hat einen Namen verdient. Nicht irgendeinen, nicht einen, den wir nicht aussprechen können, weswegen wir ihn schnell wieder vergessen. Geben wir ihr einen Namen, wie er in Europa oft zu hören ist. Nennen wir sie Svenja.

Svenja entschied sich vor vielen Wochen, ihr Dorf zu verlassen. Die Entscheidung fiel ihr nicht leicht, denn sie verließ nicht nur die Armut, die dort herrschte, sondern auch ihre Familie und Freunde. Sie verließ all die Menschen, mit denen sie aufgewachsen ist, mit denen sie viel gelacht hat und auch viel geweint. Sie verließ die Welt, in der sie aufgewachsen ist und die sie geprĂ€gt hat. Sie verließ den Ort, an dem sie viele Sonnenauf- und UntergĂ€nge erlebt hat, an dem sie sooft die Sterne beobachtet und ja, an dem sie auch das erste Mal gekĂŒsst hat. Svenja machte sich diese Entscheidung nicht leicht, aber der Hunger, den sie in ihrem Dorf oft erleben musste, stĂ€rkte sie. Nein, nicht nur der Hunger, auch die Gewalt, die in ihrem Land herrschte und die auch vor ihrem Dorf keinen Halt machte, half ihr dabei, diese Entscheidung zu treffen. Sie zog also los, um diese andere Welt zu erreichen, von der sie schon soviel gelesen hatte.

Sie machte sich auf den Weg, auf dem Svenja viele andere Menschen kennenlernte. In den Wochen, die sie bis zum Meer brauchte, lernte sie eine alte Frau kennen, bei der sie ĂŒbernachten durfte. Sie war zu diesem Zeitpunkt schon eine Woche unterwegs, hatte wenig geschlafen und mehr als einmal musste sie sich vor MĂ€nnern in Sicherheit bringen, die nichts Gutes von ihr wollten. Nach dieser Woche hatte Svenja schon viel von ihrem Mut verloren. Sie dachte daran, wieder umzukehren, wieder in ihr Dorf zu gehen, zurĂŒck zu ihren Freunden und zu ihrer Familie. Scheitern, hatte ihr Vater ihr gesagt, scheitern sei nichts Schlimmes, denn scheitern können nur die Menschen, die etwas gewagt haben. Sie hĂ€tte also in ihr Dorf zurĂŒckkehren können, ohne das ihr irgendwer VorwĂŒrfe gemacht hĂ€tte. Aber Svenja hielt durch und sie traf diese alte Frau, bei der sie ĂŒbernachten durfte. Und sie blieb dort nicht nur eine Nacht, sie blieb dort fĂŒnf NĂ€chte. Sie half der Frau bei ihrer Arbeit. Svenja holte Wasser aus dem Brunnen, der sich in der NĂ€he der HĂŒte befand. Sie sammelte die Eier der HĂŒhner ein, die der alten Frau gehörten und sie ĂŒbernahm viele andere Arbeiten. Im Gegenzug bekam sie Essen, Trinken und eine Schlafstelle. Aber das Wichtigste, was sie bekam, waren die vielen Geschichten, die die alte Frau jeden Abend erzĂ€hlte. Geschichten, die Svenja wieder neuen Mut gaben und die sie in der anderen Welt, in die sie gerade flĂŒchtete, anderen Menschen erzĂ€hlen wollte, um diesen Menschen Mut zu machen. Denn, wie sie von der alten Frau erfuhr, es gab auch in dieser Welt Menschen, die Mut brauchten, weil es ihnen nicht so gut ging, weil auch sie in Armut lebten. Als sie weiterzog, wĂŒnschte ihr die alte Frau viel GlĂŒck. Sie hoffte, dass Svenja sie nicht so schnell vergisst und das sie sich vielleicht noch einmal wiedersehen, auch wenn der alten Frau bewusst war, dass ihr Leben nur noch eine kurze Zeitspanne hatte.

Svenja ging weiter, begegnete auf ihrer Reise einen jungen Mann. Doch, sie verliebte sich in ihn, jedoch war der Wunsch, in die andere Welt zu gelangen, stĂ€rker und so ließ sie den jungen Mann, nach einigen Tagen, zurĂŒck. FĂŒr Liebe hatte sie auch in der Welt hinter dem Meer noch genĂŒgend Zeit.

Sie erreicht das Meer, schaffte es auf ein Schiff, das noch 399 andere Menschen nach Europa bringen sollte und sie freute sich darauf, in Europa zu lernen.

Gewiss hĂ€tte Svenja es schaffen können. Sie war eine starke Frau, gerade erst 18 Jahre alt. Sie hĂ€tte viel zu erzĂ€hlen gehabt, hĂ€tte vielleicht sogar ein Buch schreiben können, mit dem sie vielleicht sogar viel Geld verdient hĂ€tte. Aber auf dem offenen Meer kenterte ihr Schiff, war plötzlich nicht mehr da. Svenja war jung, hatte noch genĂŒgend Kraft, und wenn Hilfe gekommen wĂ€re, dann wĂ€re sie sicher unter den wenigen Menschen gewesen, die hĂ€tten gerettet werden können. Aber die Hilfe kam nicht und irgendwann machte Svenja ihren letzten Atemzug, dann verließ sie die Kraft, dann verlor sie den Mut und dann sank sie auf den Grund des Meeres, zusammen mit ihrem Traum und der Hoffnung und den Geschichten der alten Frau, die sie erzĂ€hlen wollte. Und vor ihr und nach ihr versanken weitere 399 TrĂ€ume, sanken auf den Grund des Meeres. Vierhundert versunkene TrĂ€ume.