Vierhundert Menschen! Vierhundert Menschen, die, wenn wir genauer hinsehen, gerade um ihr überleben kämpfen. Sie treiben auf dem Meer, ihr Boot ist gekentert, keine Hilfe weit und breit. Sie kämpfen, wollen weiter, wollen hier nicht sterben. Sie haben noch Träume, sie haben Familie und sie tragen Verantwortung für diese Familie. Vierhundert Menschen! Die Herkunft ist egal, die Religion ist egal, wichtig ist nur, dass es Menschen sind. Wichtig ist, dass sie Träume haben, dass sie in ein anderes Leben flüchten wollen, dass sie die Hoffnung für Menschen sind, die sie zurücklassen mussten. Vierhundert Menschen!

Dort, ein Mädchen, vielleicht 18 Jahre alt. Sie sieht noch gut aus, könnte es schaffen, wenn Hilfe unterwegs wäre. Sie schwimmt noch, hat noch keine Probleme damit, sich über Wasser zu halten. Ist das noch ein Lächeln, das über ihr Gesicht huscht? Ist das noch Hoffnung? Glaubt sie, dass noch alles gut wird?

Als sie vor mehreren Wochen ihr Heimatdorf verließ, hatte sie große Pläne. Sie wollte raus aus der Armut, wollte in eine andere Welt. Sie wollte gar nicht viel, sie wollte lernen. Mehr wollte sie nicht! Sie wollte Wissen sammeln, wollte Studieren, wollte Geld verdienen, damit sie den Menschen in ihrem Dorf helfen kann. Sie wollte Hoffnung in ihr Dorf bringen, wollte beweisen, dass sie nicht hungern müssen, dass es ihnen genauso gut gehen kann, wie den Menschen in der Welt, in die sie fliehen wollte.

Sie wollte nicht viel? Doch, sie wollte viel! Sie wollte die Welt verändern, wollte Ungerechtigkeiten benennen und sie abschaffen. Obwohl sie in einem kleinen Dorf lebte, konnte sie lesen und schreiben. Und sie las viel. Viel über die Welt, in die sie fliehen wollte und über die Möglichkeiten, die sie hätte, um dort die Welt zu verändern. Ihr war bewusst, dass sie noch viel lernen musste, um überhaupt eine Chance zu haben und ihr war bewusst, dass sie kämpfen musste, um ihre Ziele zu erreichen.

Wollen wir ihr einen Namen geben, denn sie hat einen Namen verdient. Nicht irgendeinen, nicht einen, den wir nicht aussprechen können, weswegen wir ihn schnell wieder vergessen. Geben wir ihr einen Namen, wie er in Europa oft zu hören ist. Nennen wir sie Svenja.

Svenja entschied sich vor vielen Wochen, ihr Dorf zu verlassen. Die Entscheidung fiel ihr nicht leicht, denn sie verließ nicht nur die Armut, die dort herrschte, sondern auch ihre Familie und Freunde. Sie verließ all die Menschen, mit denen sie aufgewachsen ist, mit denen sie viel gelacht hat und auch viel geweint. Sie verließ die Welt, in der sie aufgewachsen ist und die sie geprägt hat. Sie verließ den Ort, an dem sie viele Sonnenauf- und Untergänge erlebt hat, an dem sie sooft die Sterne beobachtet und ja, an dem sie auch das erste Mal geküsst hat. Svenja machte sich diese Entscheidung nicht leicht, aber der Hunger, den sie in ihrem Dorf oft erleben musste, stärkte sie. Nein, nicht nur der Hunger, auch die Gewalt, die in ihrem Land herrschte und die auch vor ihrem Dorf keinen Halt machte, half ihr dabei, diese Entscheidung zu treffen. Sie zog also los, um diese andere Welt zu erreichen, von der sie schon soviel gelesen hatte.

Sie machte sich auf den Weg, auf dem Svenja viele andere Menschen kennenlernte. In den Wochen, die sie bis zum Meer brauchte, lernte sie eine alte Frau kennen, bei der sie übernachten durfte. Sie war zu diesem Zeitpunkt schon eine Woche unterwegs, hatte wenig geschlafen und mehr als einmal musste sie sich vor Männern in Sicherheit bringen, die nichts Gutes von ihr wollten. Nach dieser Woche hatte Svenja schon viel von ihrem Mut verloren. Sie dachte daran, wieder umzukehren, wieder in ihr Dorf zu gehen, zurück zu ihren Freunden und zu ihrer Familie. Scheitern, hatte ihr Vater ihr gesagt, scheitern sei nichts Schlimmes, denn scheitern können nur die Menschen, die etwas gewagt haben. Sie hätte also in ihr Dorf zurückkehren können, ohne das ihr irgendwer Vorwürfe gemacht hätte. Aber Svenja hielt durch und sie traf diese alte Frau, bei der sie übernachten durfte. Und sie blieb dort nicht nur eine Nacht, sie blieb dort fünf Nächte. Sie half der Frau bei ihrer Arbeit. Svenja holte Wasser aus dem Brunnen, der sich in der Nähe der Hüte befand. Sie sammelte die Eier der Hühner ein, die der alten Frau gehörten und sie übernahm viele andere Arbeiten. Im Gegenzug bekam sie Essen, Trinken und eine Schlafstelle. Aber das Wichtigste, was sie bekam, waren die vielen Geschichten, die die alte Frau jeden Abend erzählte. Geschichten, die Svenja wieder neuen Mut gaben und die sie in der anderen Welt, in die sie gerade flüchtete, anderen Menschen erzählen wollte, um diesen Menschen Mut zu machen. Denn, wie sie von der alten Frau erfuhr, es gab auch in dieser Welt Menschen, die Mut brauchten, weil es ihnen nicht so gut ging, weil auch sie in Armut lebten. Als sie weiterzog, wünschte ihr die alte Frau viel Glück. Sie hoffte, dass Svenja sie nicht so schnell vergisst und das sie sich vielleicht noch einmal wiedersehen, auch wenn der alten Frau bewusst war, dass ihr Leben nur noch eine kurze Zeitspanne hatte.

Svenja ging weiter, begegnete auf ihrer Reise einen jungen Mann. Doch, sie verliebte sich in ihn, jedoch war der Wunsch, in die andere Welt zu gelangen, stärker und so ließ sie den jungen Mann, nach einigen Tagen, zurück. Für Liebe hatte sie auch in der Welt hinter dem Meer noch genügend Zeit.

Sie erreicht das Meer, schaffte es auf ein Schiff, das noch 399 andere Menschen nach Europa bringen sollte und sie freute sich darauf, in Europa zu lernen.

Gewiss hätte Svenja es schaffen können. Sie war eine starke Frau, gerade erst 18 Jahre alt. Sie hätte viel zu erzählen gehabt, hätte vielleicht sogar ein Buch schreiben können, mit dem sie vielleicht sogar viel Geld verdient hätte. Aber auf dem offenen Meer kenterte ihr Schiff, war plötzlich nicht mehr da. Svenja war jung, hatte noch genügend Kraft, und wenn Hilfe gekommen wäre, dann wäre sie sicher unter den wenigen Menschen gewesen, die hätten gerettet werden können. Aber die Hilfe kam nicht und irgendwann machte Svenja ihren letzten Atemzug, dann verließ sie die Kraft, dann verlor sie den Mut und dann sank sie auf den Grund des Meeres, zusammen mit ihrem Traum und der Hoffnung und den Geschichten der alten Frau, die sie erzählen wollte. Und vor ihr und nach ihr versanken weitere 399 Träume, sanken auf den Grund des Meeres. Vierhundert versunkene Träume.

5 Gedanken zu „Vierhundert versunkene Träume

  1. Hallo Sven,

    ich habe deine Kurzgeschichte gelesen. Ich hatte genau eine Hoffnung und einen Wunsch.

    Die Hoffnung: Svenja überlebt.
    Der Wunsch: Svenja kann helfen.

    Du hast mit dieser kurzen Geschichte eine schöne Erzählung von Wünschen, Hoffnungen und Träumen geschaffen, die nahe geht. Die berühren kann und die einen Seufzer über meine Lippen kommen lässt.

    Ich werde noch mehr von dir lesen, lesen wollen, vor allem. Du schreibst schön und bist auf einem guten Weg.

    Liebe Grüße
    Henrik

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