Beim folgenden Artikel handelt es sich um einen Gastbeitrag der „Piraten @ Dol2day“. Dies ist eine Internetpartei, welche auf der Politikdiskussionsplattform „dol2day.com“ zu Hause ist. Der Text entstand im Rahmen eines „Battle of Parties“ mit der „SIP“ und kämpft jetzt um den Sieg. Den Text der „SIP“ könnt ihr auf  http://www.webstreit.com finden.

The chief desiderata seem to be as follows:
[…]
(3) That the number of unrepresented Electors should be as small as possible.”

– Lewis Carrol: The Principles of Parliamentary Representation (1884)

“One man, one vote” – dieser Grundsatz der Wahlgleichheit gehört zu den für uns selbstverständlichen Prinzipien der Demokratie. Aber ist es nicht schon längst so, dass dieses Prinzip daran krankt, dass viele Bürger ihr Stimmrecht gar nicht mehr wahrnehmen? Nicht mehr wahrnehmen wollen, weil sie mit einer Stimme über zu viele Dinge entscheiden? Weil sie nur komplette Wahlprogramme wählen können und sie ihre Stimme nicht splitten können, um mit ihr einzelne Themenschwerpunkte der Parteien zu wählen?
Die Gewichtung der bei einer Wahl abgegebenen Stimmen ist ohne Frage gleich, doch was ist mit den Stimmen, die bei einer Wahl nicht gehört werden, weil sie nicht gesagt werden? Haben diese ungehörten Bürger selbst Schuld, wenn sie nicht wählen und sich am Ende nicht mehr repräsentiert fühlen?
Ist es nicht vielleicht sogar Ausdruck unseres komplexen politischen Systems, dass sich viele Bürger gar nicht mehr artikulieren können – wer kann denn schon eine fundierte Meinung zum europäischen Rettungspakt geben?

Wer sich solche Fragen zum Funktionieren unserer Demokratie stellt, der wird schnell darauf stoßen, dass Politik sich entkoppelt hat von den Stimmen und Stimmungen des Souveräns. Während der Großteil der Bevölkerung (und auch der Bundestagsabgeordneten) vor dem Fernseher sitzt und ein EM-Halbfinale schaut, wird im Bundestag ein Gesetz beschlossen, das den Bürger wahrscheinlich sehr viel Geld kosten wird und das womöglich mit unserer Verfassung kollidiert.

Wir sagen, Politik kann anders sein. Politik muss so sein, dass die Bürger sich vorab informieren können, sich einbringen können und anderen vertrauen können, die sich mit Themen befassen, die sie selbst nicht greifen können.

Durch die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte wurden neue Möglichkeiten geschaffen, welche dazu beitragen können, den Schritt hin zu mehr direkter Demokratie zu gehen.
Im alten Griechenland, dem Geburtsort der Demokratie, konnte noch jeder wahlberechtigte Bürger sein Stimmrecht selbst ausüben, indem er sich zu den Abstimmungen über neue Gesetze und Beschlüsse begab. Damals waren es aber weniger wahlberechtigte Bürger als heute, und auch die Stadtstaaten waren kleiner, als es die heutigen Flächenstaaten sind. Deswegen mussten sich die Demokraten der Neuzeit ein neues System ausdenken, wie Demokratie funktionieren kann. Dabei rausgekommen ist die repräsentative Demokratie, wie wir sie zum Beispiel in Deutschland haben. Lange Zeit galt diese Form der Demokratie als die beste, denn es war nicht möglich, zu jedem Gesetzentwurf das gesamte Volk zu befragen. Doch das Internet eröffnet dem Bürger, durch mittlerweile breite Verfügbarkeit, neue Wege, sein Stimmrecht wieder in eigener Verantwortung wahrzunehmen, wenn er es denn gerne möchte. Wer nämlich in einer Sachfrage jemand anderem vertraut, der kann sein Stimmrecht auch weitergeben. Diese Form der Einmischung, der Mitsprache, des kollaborativen Arbeitens und der Stimmendelegation ist als “flüssige Demokratie” (“Liquid Democracy”) bekannt.

 

Liquid Democracy als Ergänzung zur repräsentativen Demokratie

 

Dabei soll “Liquid Democracy” die repräsentative Demokratie nicht ersetzen, sondern dort ergänzen, wo es sinnvolle Schnittstellen zwischen dem Ansatz der “Liquid Democracy” und der Politik gibt. Das könnte zum Beispiel die Meinungsbildung innerhalb von Parteien sein, da hier die Basis der Partei gezielter befragt werden kann und wirklich jeder seine Meinung dazu schreiben kann, wenn er denn Interesse am Thema hat. Mit dieser Form der Basispartizipation wird das Potential der Parteien genutzt und es entscheiden auch nicht mehr allein die Spitzenfunktionäre darüber, was für die Partei wohl das Beste sei.
Mit der Hilfe von Liquid Democracy kann die Partei Gesetzentwürfe allen Mitgliedern zugänglich machen, welche ihrerseits ihr Wissen einbringen können, indem sie die Gesetzestexte ändern oder ergänzen. Diese Änderungen können von anderen Parteimitgliedern bewertet und diskutiert werden. Dadurch kann vorhandenes Expertenwissen genutzt werden, um Gesetze zu verbessern und eventuelle Schwachstellen auszubessern, bevor das Gesetz im Bundestag oder auf Landesebene verabschiedet wird.
Der Entwicklungsprozess wird transparent, Teilhabe wird ermöglicht und durch niedrige Hürden gefördert, Sachverstand kann durch delegierte Stimmen mehr Einfluss nehmen.

Wir sehen im Prinzip der “flüssigen Demokratie” ein Instrument, mit dem Politik in Zukunft offener gestaltet werden kann. Die Politik der Zukunft muss nach unserer Auffassung transparent sein, sie muss Mitsprache ermöglichen und sie muss verständlich sein.

Wer nicht lossegelt, kann kein Boot entern

 

Kritiker meinen, das Internet schließe zu viele Bevölkerungsgruppen aus, Politik im Internet sei zudem eine Nischenerscheinung. Außerdem besteht die Angst, Abstimmungen könnten manipuliert werden und nur kleine Gruppen würden ihre Meinungen und Vorschläge veröffentlichen und vertreten.
Es mag durchaus sein, dass derzeit nur 70 Prozent der Bürger in Deutschland einen Internetanschluss haben, und es mag sein, dass viele der Bürger, die einen Internetanschluss haben, diesen nur sporadisch nutzen, aber das bedeutet ja nicht, dass es so bleiben muss.
Die Idee der “Liquid Democracy” ist noch jung. Sie tauchte 2003 das erste mal in amerikanischen Foren auf, und bis erste ernsthafte Softwareumsetzungen auf dem Markt waren, vergingen auch noch einmal ein paar Jahre. Man kann also behaupten, dass die Idee noch in den Kinderschuhen steckt und das sie deswegen in der Bevölkerung noch nicht so angenommen wird. Aber vor ein paar Jahrhunderten lachten die Menschen noch über Mitbürger, die den Traum vom Fliegen hatten. Heute ist fliegen zu etwas Selbstverständlichen geworden und warum sollte “Liquid Democracy” nicht auch zu etwas Selbstverständlichen werden?
Der Bürger muss erst lernen, er muss ausprobieren können und er muss verstehen, was er hier für Möglichkeiten angeboten bekommt. Sobald das der Fall ist, wird er die Möglichkeiten auch annehmen und wir dürfen nicht vergessen, dass für die heranwachsende Generation das Internet schon etwas Selbstverständliches ist.
Sicher wird es immer Menschen geben, die an politischen Entscheidungen nicht teilhaben wollen, aber das ist kein Grund, warum “Liquid Democracy” nicht funktionieren kann.

Das Argument, dass das Ganze leicht manipulierbar ist, stimmt auch nur bedingt. Hier wird oft ins Feld geführt, dass eine einfache E-Mail-Adresse reicht, um sich im System anzumelden. Das stimmt, aber die Systeme sind noch in den Kinderschuhen und es werden kaum wichtige Entscheidungen damit getroffen. Sobald dies der Fall ist, werden auch die Anmeldebedingungen verändert und ein Zugang muss dann natürlich legitimiert werden. Damit sollte dieses Argument vom Tisch sein und auch die technische Sicherheit entwickelt sich immer weiter, sodass ein Angriff von außen eine Menge krimineller Energien bedarf. Diese könnte aber auch ausgenutzt werden, um eine Urnenwahl zu manipulieren.

Die Argumente beziehen sich also nur auf den Ist-Zustand, sie gehen nicht auf eventuelle zukünftige Entwicklungen ein und deswegen können diese Argumente auch kein Grund sein, einfach stehenzubleiben und den Lauf gar nicht erst zu beginnen. Wer nicht losläuft, der kann auch nicht ins Ziel kommen. Wer keine Träume hat, kann auch nichts verändern.

Nicht jeder muss alles wissen

 

“Liquid Democracy” bedeutet nicht, dass jeder alles wissen muss. In der heutigen Zeit ist Zeit das wichtigste Gut, was der Mensch hat. Viel davon geht für den Job drauf, einiges für die Familie und für Hobbys. Da bleibt nicht mehr viel Zeit, um sich komplexes Wissen anzueignen, damit man jedes Gesetz verstehen und mitgestalten kann. Vielmehr soll “Liquid Democracy” Expertenwissen in Gesetze einfließen lassen, welches in unserer repräsentativen Demokratie nicht genutzt wird. Themen, zu denen man keine eigene Meinung hat oder bei dem das Expertenwissen fehlt, müssen nicht bearbeitet werden. Hier besteht die Möglichkeit, die eigene Stimme jemandem zu übergeben, dem man selbst vertraut und der über das nötige Expertenwissen verfügt – so wie es auch in unserer repräsentativen Demokratie geschieht. Der Unterschied ist aber, dass man die Stimme nur für ein Thema abgibt und nicht für vier Jahre, so wie es heute der Fall ist.

 

Fazit

 

Wir befinden uns am Start eines Laufes, den wir vorher noch nie gelaufen sind. Wir wissen also nicht, welche Hindernisse vor uns liegen, welche Steine wir aus dem Weg räumen müssen, um ins Ziel zu kommen. Das Ziel ist, mehr direkte Demokratie zu ermöglichen, damit jeder von uns in der Entscheidungsfindung eingreifen kann, um diese gestaltend zu begleiten. Solange wir das Ziel nicht aus den Augen verlieren, solange kann uns kein Hindernis aufhalten, es kann nur dazu führen, dass wir etwas mehr Zeit brauchen, um ins Ziel zu kommen. Deswegen ist es an der Zeit, mehr direkte Demokratie zu wagen.

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