Weltzeituhr am Alexanderplatz in Berlin

Sehr geehrter Herr Wulff,

beim RND habe ich gelesen, dass sie sich Sorgen machen um unsere Demokratie. Sie sagen:

„Diese Faulheit der Leute, die auf der Tribüne sitzen, rummosern, rummäkeln und nicht selber was tun, das werden wir uns nicht mehr lange leisten können.“

Christian Wulff (RND)

Ich finde es sehr mutig, wenn sie von Faulheit sprechen, während die Politiker*Innen, die sie wenig später in Schutz nehmen, sich gegen jede Form der Partizipation von Bürger*Innen wehren. Gute Beispiele sind Volksentscheide in Berlin, die entweder gar nicht umgesetzt werden, oder nach einer kurzen Zeit schon wieder ignoriert werden sollen. Welches Signal sendet ein solches Verhalten der Volksvertreter*Innen denn an die Menschen, von denen sie behaupten, dass sie nur auf der Tribüne sitzen und rummosern? Dieses Verhalten erzeugt Politikverdrossenheit, es bestätigt Vorurteile, zum Beispiel dieses, dass die Politiker*Innen eh nicht auf die Bürger*Innen hören, wenn diese etwas verändern möchten.

Sicher leben wir derzeit in schwierigen Zeiten und wenn ich ganz ehrlich bin, dann mache auch ich mir Sorgen um unsere Demokratie. Ich sehe hier das Versagen aber nicht nur bei den Menschen in unserem Land, ich sehe es auch bei den Politiker*Innen, die Demokratie nicht als etwas Lebendiges ansehen, was sich ständig weiterentwickeln muss, damit es nicht stirbt.

Repräsentative Demokratie war – nach den Erfahrungen des 2. Weltkriegs – damals die richtige Form, aber sie war schon damals nur eine Brückentechnologie, die uns entweder auf den Pfad zu mehr Demokratie hätte führen können, oder zurück zum Faschismus. Derzeit befinden wir uns auf den Weg zurück! Das liegt aber daran, weil Politiker*Innen unsere Demokratie nie weiterentwickelt haben. Weil Institutionen wie Schule, Familie und Unternehmen immer noch autoritär sind, die Menschen also von klein auf lernen, in autoritären Systemen leben und denken zu müssen. Dies hätte die Politik nach dem 2. Weltkrieg ändern können und auch ändern müssen. Sie hätte alle Institutionen demokratisieren müssen, damit jeder Mensch weiß, dass das ganze nur funktionieren kann, wenn jeder mitmachen darf und dies am Ende auch muss, wenn er Gesellschaft gestalten möchte.

Die Faulheit, von der Sie reden, ist also eine Faulheit, die durch Politiker*Innen genauso gewollt ist. Alle paar Jahre irgendwo ein Kreuz machen, ist halt einfach noch keine ausreichende Form der demokratischen Gestaltung in einer Gesellschaft. Dazu gehört mehr und wenn Politik es gewollt hätte, dann wäre da auch schon mehr!

Sie sagen:

„Da müssen doch ein paar die jungen Leute daran erinnern, was es für Schweiß, Blut und Tränen gekostet hat, Mut und Überwindung gekostet hat, dies Wahlrecht zu erkämpfen.“

Christian Wulff (RND)

Dabei sind es doch gerade die jungen Menschen, die gerade alles dafür tun, dass wir die Probleme, vor denen wir als Menschheit derzeit stehen, in demokratischen Prozessen lösen. Die Letzte Generation klebt sich auf die Straße, damit es zum Beispiel einen Gesellschaftsrat gibt. Ich bin nicht überzeugt davon, dass das die beste Lösung für mehr Demokratie ist, aber es ist ein Baustein, um die Menschen in unserem Land an mehr direkte Demokratie heranzuführen. In Gesellschafts- oder Bürger*Innenräten können die Werkzeuge vermittelt werden, die es braucht, damit es ein mehr an demokratischer Mitgestaltung gibt. Dagegen wehrt sich aber die Politik, übersieht dabei aber, dass sie dadurch einen größeren Rückhalt in der Gesellschaft erhalten könnte, wenn dann ungemütliche Entscheidungen irgendwann einmal getroffen werden müssen. Und es müssen irgendwann ungemütliche Entscheidungen getroffen werden, wenn wir die Lebensgrundlage der Menschen auf diesem Planeten erhalten möchten.

Jungen Menschen müssen also nicht daran erinnert werden, wie hart es war, sich demokratische Teilhabe zu erkämpfen, sie sehen es ja täglich selbst. Sie sehen selbst, dass sie nicht ernst genommen werden. Sie gehen seit Jahren mit Fridays for Future auf die Straße, und die Reaktion der Politik ist, dass diese jungen Menschen doch erst einmal was lernen sollen, bevor sie an demokratischen Entscheidungsprozessen teilnehmen wollen. Sie sollen erst einmal Erfahrungen sammeln, erst einmal hart arbeiten, bevor sie artikulieren dürfen, dass sie doch gerne auch noch eine lebenswerte Zukunft auf diesen Planeten hätten. Eine solche Aussage von Ihnen ist dann halt einfach nur noch frech, weil sie all das ausblendet, was junge Menschen in den letzten Jahren versucht haben, um Politik und Gesellschaft zu gestalten.

Bei all der Ignoranz gegenüber der jungen Generation, bei all dem Ausbremsen von Klimaschutzmaßnahmen, dürfen Zweifel angemeldet werden, ob da wirklich schon das beste Personal auf dem Platz ist. Aber selbst wenn dem so ist, so sollte es kein Problem sein, wenn auch dieses Personal einfach Aufgaben auch einmal delegiert. Wenn gesellschaftliche Umbrüche auch einmal breiter in Gesellschaftsräten diskutiert werden, wenn hier auf breiterer Basis nach Lösungen gesucht wird, wenn die Empfehlungen, die dabei ausgearbeitet werden, dann von der Politik auch übernommen werden. Darum leben wir ja in einer Demokratie! Sie ist dazu da, damit sich alle einbringen können, damit jeder Gestaltungsmöglichkeiten hat. Dazu müssen Politiker*Innen aber Platz schaffen, sie müssen auf eigene Macht verzichten und darauf vertrauen, dass auch die Menschen, die Politik nicht als Beruf ausüben, in der Lage sind, gute Entscheidungen zu fällen, wenn sie die Werkzeuge dazu erhalten.

Da wären wir dann wieder bei der Brückentechnologie. Politiker*Innen müssen weg vom Glauben, dass die repräsentative Demokratie die bestmögliche Form der Demokratie ist. Sie müssen Experimente zulassen, müssen neue Formen der Demokratie erproben, müssen das Korsett, in welches unsere Demokratie gequetscht ist, zerschneiden und so unserer Demokratie mehr Luft zum Atmen lassen. Nur dann können wir den Weg zurück zum Faschismus verlassen und wieder zurück auf den Pfad der Demokratie kommen. Lassen sie mehr Menschen mitspielen, lassen sie das „Das haben wir schon immer so gemacht!“ über Board gehen und lassen sie Experimente und neue Formen der Demokratie an Board, damit sich Demokratie und Gesellschaft entfalten kann.

Es sind nicht die jungen Menschen daran Schuld, wenn Parteien wie die AfD erstarken, es sind die Menschen daran Schuld, die Politik nur machen, weil sie dadurch Macht erhalten. Es sind die Politiker*Innen daran Schuld, die meinen, dass sie alles Alte erhalten müssen, und deswegen Angst vor allem Neuen schüren. Die Partizipation unmöglich machen und so Menschen in die Politikverdrossenheit jagen. Und auch ihre Aussagen gehören dazu, die von den jungen Menschen natürlich gehört werden und die sich berechtigterweise fragen, was sie denn noch tun sollen, um die Gesellschaft in eine positive Richtung zu entwickeln.

Grüße aus einem viel zu trockenen Berlin

Sven

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