Seit 2002 schreibe ich ins Internet. Damals waren es noch Chats, Foren und Gemeinschaften – wie die Plattform, wo ich meine Gedichte veröffentlichen durfte – heute sind es mehr Blogs und soziale Netzwerke und Gedichte schreibe ich nur noch selten. 19 Jahre sind das, vielleicht sogar schon 20 und wenn ich all das noch einmal lesen dürfte, würde ich mich wahrscheinlich fragen, was ich damals für ein Idiot war. Ich brauche eigentlich nur 12 Jahre hier in meinem Blog zurückgehen, und würde so in eine Gedankenwelt einer anderen Person tauchen, obwohl die Texte und Gedanken von mir sind. Wahrscheinlich würde ich auch Texte, die ich vor fünf Jahren geschrieben habe, heute nicht mehr so schreiben, ganz einfach, weil ich mich als Mensch weiterentwickelt habe, ich neue Erfahrungen in meine Gedankenwelt eingebaut, meine Ansichten und Meinungen weiterentwickelt habe.
Ich schreibe das, weil gerade eine Kampagne gegen Sarah-Lee Heinrich läuft, in der ihr alte Tweets vorgeworfen werden, um ihre noch junge politische Karriere zu zerstören. Tweets von vor sechs Jahren, Tweets von einer unreflektierten wütenden Jugendlichen, die damals 14 oder 15 war. Inzwischen ist sie sechs Jahre älter, reflektierter und sie gesteht sogar ein, dass die Tweets von damals falsch waren. Das ist schon viel wert in einer Welt, in der Menschen Probleme damit haben, Fehler einzugestehen und die Frage muss erlaubt sein, ob es wirklich ein Fehler war, den wir ihr vorwerfen können, oder ob es nicht einfach zur Entwicklung dazu gehört. Immerhin wächst sie in einer Gesellschaft auf, die geprägt ist von Rassismus, Diskriminierung und Antisemitismus! Und ja, sie wächst auf, weil sie sich in ihrem Leben ständig weiterentwickelt und diese Entwicklung nicht einfach irgendwann endet!
Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Menschen erst mit 18 die volle Geschäftsfähigkeit erreichen, wo bestimmte Dinge sogar erst mit 21 erlaubt sind und wo sogar das Jugendstrafrecht bis zum vollendeten 21 Lebensjahr Anwendung finden kann, wenn die Entwicklung der Person noch nicht so weit ist, wie wir sie von einem Erwachsenen erwarten. Volles Wahlrecht gibt es erst mit 18, ebenso den Führerschein und auch die Entscheidungsmacht der Erziehungsberechtigten fällt erst mit dem 18. Lebensjahr. Viele von denen, die jetzt gegen die junge Politikerin hetzen, finden diese Einschränkungen super, erklären dir in Diskussionen über das Wahlrecht, warum 18-Jährige eigentlich noch viel zu jung zum Wählen sind, wollen jetzt aber, dass eine 14-Jährige damals schon so reflektiert war, dass sie sich der Tragweite ihrer Tweets bewusst war! Das ist ein Widerspruch.
Entweder sind Menschen unter 18 noch nicht reif genug, damit die Einschränkungen und Diskriminierungen, die sie erfahren, gerechtfertigt sind, oder sie sind reif genug, dann sollten aber auch sofort alle Einschränkungen wegfallen, dann sollten auch Menschen unter 18 Jahren zum Beispiel das volle Wahlrecht erhalten.
Es geht aber gar nicht um Logik, es geht darum, einem jungen Menschen das Leben zu zerstören, sie aus der Öffentlichkeit zu drängen, ihr ihre Stimme zu nehmen, sie unsichtbar zu machen. Wäre es nur um ihre damaligen Aussagen gegangen, wäre das Thema nicht so hochgekocht, weil sie – wie schon erwähnt – die Tweets von damals selbst als Fehler ansieht. Das hätte in einer kurzen, sachlichen Diskussion geklärt werden können, wenn denn wirklich noch Unklarheiten bestanden. Und ja, gegen eine sachliche Auseinandersetzung spricht überhaupt nichts, aber Morddrohungen und Anfeindungen sind halt keine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema!
Was bin ich glücklich, dass ich mit 14 noch kein Internet hatte! Was bin ich glücklich, dass meine Aussagen von damals nicht wirklich dokumentiert sind, wobei das sicher verdammt spannend wäre, meine Entwicklung von damals bis heute noch einmal nachzuverfolgen, und eigentlich ist es schade, dass so was – obwohl es heute möglich wäre – immer zu einem Nachteil werden kann. Klar, ein Tagebuch könnte das auch dokumentieren, aber es ist halt schon etwas anderes, seine Gedanken nur für sich selbst zu sortieren oder damit in einen öffentlichen Diskurs zu gehen.
Ich wäre nicht da, wo ich heute bin, wenn ich 2002 nicht damit angefangen hätte, das Internet vollzuschreiben und ich halte es für wichtig, auch mal unreflektiert Wut rauslassen zu dürfen, ohne daran zu denken, dass das in sechs Jahren vielleicht ein Nachteil sein könnte. Nur so ist Platz da, um über diese Wut nachzudenken, sie zu greifen, sie zu reflektieren und sich dadurch weiterzuentwickeln. Sollte es dann fünf Jahre später noch Klärungsbedarf geben, wäre das auf einer sachlichen Ebene durchaus möglich, aber solche Tweets oder Texte dann herauszuholen, nur um einen Menschen anzufeinden, um ihn aus der Öffentlichkeit zu drängen, ist absolut unangebracht!
Kleine Anmerkung:
Mir ist durchaus bewusst, dass der Artikel sehr an der Oberfläche bleibt und es durchaus gute Gründe geben kann, weswegen ältere Texte und Gedanken auch in einer aktuellen Kritik als Unterbau verwendet werden. Eine Weiterentwicklung einer Person muss ja nicht immer in eine positive Richtung gehen. Und ja, wir sollten auch Antisemitismus nicht einfach unter den Tisch kehren mit Aussagen wie: „Sie ist erst 14!“, aber wenn zwischen Aussage und Kritik eine Zeitspanne von mehreren Jahren liegt, dann muss halt immer auch geschaut werden, ob sich ein Mensch in dieser Zeit weiterentwickelt hat. Deswegen schrieb ich auch oben, dass eine sachliche Diskussion immer möglich sein sollte, auch wenn die Texte schon älter sind.