„Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur Tugend.“
Friedrich Nietzsche
Ich hatte gestern wieder viel zu viel Zeit, über Dinge nachzudenken. Um genau zu sein, habe ich über die Klebeaktionen der letzten Generation nachgedacht – mal wieder – und bin mal wieder zu dem Entschluss gekommen, dass ich mit der Aktionsform nicht viel anfangen kann. Dennoch ist es natürlich eine legitime Aktionsform, um demokratische Prozesse anzustoßen. Es ist nicht antidemokratisch, wie einige Politiker*Innen es gerne betonen, es ist aber auch kein gewaltfreier Protest, wie es die letzte Generation gerne behauptet.
Klar, die Aktivist*Innen setzen keine körperliche Gewalt ein! Sie setzen sich friedlich auf die Straße und warten dann dort, bis die Polizei sie wieder von eben dieser Straße entfernt. Aber dennoch ist es eine Form von Gewalt und deswegen sollte es auch nicht verwundern, wenn die Menschen, die in ihrem Leben gestört werden, auf diese Form der Gewalt auch eine Reaktion zeigen. Die Aktivist*Innen verhindern, dass die Menschen (die Aktivist*Innen sind auch Menschen), die sie blockieren, ihrem normalen Tagesablauf nachgehen können, sie verhindern das Einhalten von Terminen und wollen genau das auch. Sie wollen den Alltag der Menschen stoppen, wollen darauf hinweisen, dass dieser Alltag die Zukunft der nächsten Generationen verbaut und ja, es ist ein legitimes Anliegen!
Sie verhindern mit diesen Aktionen aber auch, dass Menschen in prekären Lebenslagen ihren Lebensunterhalt verdienen können. Sie entscheiden, dass es für diese Menschen in diesem Moment nicht so wichtig sein kann, das Geld für die Rechnungen zu verdienen, die diese bezahlen müssen. Das ist Gewalt, die weiter geht, als der reine Eingriff in die Zeitautonomie. Es ist Gewalt, die Menschen in der Nacht schlecht schlafen lässt, weil sie überlegen müssen, wo sie das Geld, welches sie durch die verlorenen zwei Stunden Zeit nicht einnehmen konnten, einsparen können, um die wichtigen Rechnungen zahlen zu können, das Mittagsessen für die Kinder zum Beispiel, oder das Geld für den Schulausflug der Kinder.
Diese Sorgen werden umso größer, desto öfter die Menschen in eine solche Aktion geraten. In einer Stadt wie Berlin ist es nicht unwahrscheinlich, dass drei, viermal in einem Monat zu erleben. Dann wäre es fast ein ganzer Arbeitstag, der wegfällt, der nicht einfach nachgeholt werden kann. Und wenn das passiert, dann ist es durchaus nachvollziehbar, wenn dann ein Fahrer von Uber zum Beispiel – weil das in einem Video zu sehen war, welches veröffentlicht wurde – durchdreht, und einfach durchfährt durch die Menschensperre. Nein, das ist keine Entschuldigung. Die Tat gehört natürlich bestraft, aber hier müssen Aktivist*Innen halt einfach reflektieren, dass auch ihre Aktionsform eine Form von Gewalt ist, dass sie hier nicht nur Menschen blockieren, die dadurch ein wenig Zeit verlieren, sondern eben auch Menschen, die keine Reserven haben, die jede Stunde Arbeitszeit brauchen, um sich ihr Leben finanzieren zu können. Die jeden Cent brauchen, um Miete, Strom, Gas und Lebensmittel bezahlen zu können und dass diese Menschen durch diese Aktionsform härter getroffen werden als Menschen, die dann Abends halt einfach zwei Stunden länger im Büro bleiben und dadurch keinen Verdienstausfall erleiden.
Und weil das noch nicht genug ist, gingen meine Gedanken natürlich auch weiter. Sie gingen hinüber zu den mobilen Altenpfleger*Innen, die ebenfalls in diesem Stau feststecken können und die dann ihrerseits nicht zu den alten Menschen kommen. Hier wird dann nicht nur die Zeitautonomie der Altenpfleger*Innen eingeschränkt, sondern auch die Autonomie der älteren Menschen, die vielleicht ohne Hilfe nicht in ihren Tag starten können. Die vielleicht nicht auf die Toilette können, weil sie dazu der Pfleger*Innen brauchen, die sie aus dem Bett holen, um sie dann ins Bad zu bringen. Auch das ist Gewalt, die wahrscheinlich gar nicht wirklich mit eingerechnet ist, die aber eben auch passiert, wenn ich den Alltag der Menschen unterbrechen möchte! Neben den Altenpfleger*Innen gibt es ja auch noch mobile Krankenpfleger*Innen und andere Menschen, die mit ihren Dienstleistungen älteren Menschen helfen. Also schon ganz simpel, die Menschen, die Körperpflege für Nägel und Füße anbieten, Friseur*Innen und viele andere, die älteren Menschen Dinge ermöglichen, die diese sonst nicht mehr in Anspruch nehmen könnten.
Klar, auch ein normaler Stau kann diese Zeitplanung durcheinander bringen, auch ein normaler Stau unterbricht den Alltag der Menschen, aber wenn du dann zum fünften Mal im Monat durch die Aktionen von Aktivist*Innen in deinem Leben eingeschränkt wirst, dann ist es durchaus nachvollziehbar, wenn dann mal ein Ventil platzt, es zu viel Druck ist, der da aufgebaut wurde und der sich dann in Kurzschlussreaktionen äußert. Soweit sollten die Aktivist*Innen ihre Aktion dann durchaus reflektieren und nicht ungläubig darüber den Kopf schütteln, wenn dann solch eine Situation eskaliert!
Ja, es geht um die Zukunft der Menschheit! Ja, es braucht radikale Aktionen, um dafür die nötige Aufmerksamkeit zu erzeugen! Aber es braucht eben auch genügend Reflexion der eigenen Aktionen, um zu erkennen, dass es nicht nur um die kurze Unterbrechung geht, die die eigentliche Aktion auslöst, sondern es für einige noch weitere Folgen in der näheren Zukunft nach sich zieht.