Der Tag nach dem Anruf ist der Tag, an dem die bohrenden Fragen kommen. Hättest du es merken können? Hättest du es verhindern können? Hättest du es bemerken müssen?
Ich bin mir sicher, dass sich diese Fragen alle Angehörigen stellen. Fragen, auf die es keine Antworten gibt, auf die es nie Antworten geben wird. Der Mensch, der sie beantworten könnte, lebt nicht mehr. Er kann nicht mehr sagen, warum er diesen Weg gewählt hat. Er kann nicht mehr sagen, wie wir ihm hätten helfen können.
Sicher ist, dass der Entschluss nicht von jetzt auf gleich kam. Sicher ist auch, dass wir uns diese Gedanken viel zu spät machen. Warum haben wir eigentlich so wenig Zeit für einen Menschen, den wir lieben? Warum leben wir aneinander vorbei und nicht miteinander? Es waren ja nur ein paar Kilometer, vielleicht zehn oder zwölf. Warum sind wir, warum bin ich nicht mehrmals in der Woche zu ihm gefahren? Warum habe ich meinen kleinen Eric allein gelassen?
Der Tag danach ist der Tag, an dem du auf die Straße gehst und dich fragst, warum die anderen nicht genauso traurig sind wie du. Der Tag danach ist der Tag, an dem du die Menschen nicht ertragen kannst, die sich liebevoll Küssen, die Lachen und sich rege unterhalten. Warum geht es den Menschen nicht so wie dir, warum trauern sie nicht, wo doch gerade ein wundervoller Mensch diese Erde verlassen hat?
Klar, mein Verstand kennt die Antwort. Mein Verstand weiß, dass diese Menschen es gar nicht wissen, dass sie es gar nicht wissen können und das sie, wenn sie es wüssten, nicht so trauern könnten, wie wir, weil sie diesen wundervollen Menschen gar nicht kannten. Aber mein Herz kann das nicht verstehen. Mein Herz will, dass auch diese Menschen traurig sind, mein Herz will, dass auch sie um diesen wundervollen Menschen trauern, um den Menschen, den wir verloren haben. Und mein Herz tut weh, wenn diese Menschen nicht trauern, wenn diese Menschen sich küssen oder wenn diese Menschen einfach so lachen, wo lachen und küssen in dieser Situation doch total unangemessen ist.
Der Tag danach ist der Tag, an dem du verstehst, dass du diesen wundervollen Menschen nie wieder lachen sehen wirst. Der Tag, an dem du begreifst, dass du viel zu wenig Zeit mit diesem Menschen verbracht hast und das du wahrscheinlich auch einen Teil der Schuld daran trägst, dass er diesen Weg gewählt hat. Du begreifst, dass du nie erleben wirst, wie sich dieser Mensch das erste Mal richtig verliebt, wie er Vater wird, wie er sich eine Zukunft aufbaut.
Der Tag danach ist der Tag, an dem du die ganze Zeit mit den Tränen kämpfen musst. An dem dich die Erinnerungen überwältigen, weil du so viele gemeinsame Erlebnisse mit diesem Menschen hast, weil dein Gehirn nicht will, dass zu diesen Erlebnissen keine mehr dazu kommen, weil es will, dass die Zeit zurück gedreht wird, damit du es ändern kannst, damit du ihn abfangen kannst, ihn davon abhalten kannst. Aber der Verstand weiß natürlich auch, dass dieser Entschluss viel länger gereift ist, dass du viel weiter zurück in die Vergangenheit müsstest, um den Weg zu ändern, den dieser geliebte Mensch einschlägt.
Am Tag danach bist du einfach nur hilflos. Du möchtest Dragonball schauen, in der Hoffnung, dass der geliebte Mensch dazu kommt und mit dir zusammen Dragonball schaut. Du möchtest ein Buch kaufen, in der Hoffnung, dass du es dem geliebten Menschen schenken kannst. Aber das ist nicht möglich, er wird mit dir nie wieder Dragonballs schauen, du wirst ihm nie wieder ein Buch schenken können. Und dann kommen die Tränen, sie kommen immer wieder. Sicher, sie vergehen irgendwann, die Trauer wird irgendwann vergehen, der Schmerz wird irgendwann nachlassen, aber die Erinnerungen, die werden bleiben. Die Schönen und die Schmerzlichen. Der Tag danach ist einfach nur scheiße, und die Tage danach werden es auch sein.